Wenn ein Titel direkt von 0 auf die 1 in den Verkaufscharts springt, dann steht dahinter oft ein Medienereignis. Oder der Song ist unfassbar eingängig und infektiös. Erstes ist bei Talk Dirty von Jason Derulo Feat. 2 Chainz nicht der Fall. Beim zweiten bin ich mir noch nicht ganz sicher, aber so oft wie ich den Track jetzt schon gehört habe, scheint doch der Ohrwurm- und Spaßfaktor ordentlich hoch zu sein. Für Jason Derulo ist es auf alle Fälle ein gewagtes Stück, verlässt er doch altbekannte Soundgefilde und legt etwas mit Charakter vor. Vielleicht abgesehen von seiner Debutsingle Watcha Say Ende 2009 das erste Mal, dass er sich musikalisch was Eigenständiges traut.
Nun ist Herr Derulo deswegen nicht gleich der geniale Musiker und Neuerfinder eines Sounds, aber er weiß ganz gut die Zeichen der Zeit auszuwerten und für sich zu benutzen. In seiner sparsamen Instrumentierung setzt Talk Dirty auf eine kleine Strömung auf, die spätestens seit Conor Maynard’s Can’t Say No auch im Mainstream Aufmerksamkeit erlangen kann. Dann stellt sich bei den ersten knarzigen Bläsern auch so eine leichte Erinnerung an den Soundtrack zu The Great Gatsby ein. Wir plündern also ein bisschen dieses 20er Jahre Gefühl, aber nicht zu sehr – zeitgemäß soll es schon sein. Spätestens wenn die Bläser-Hookline einsetzt wird der Track tatsächlich irrsinnig. Ist das etwa Balkan-Sound? – Ja genau, ist es. Hier werden hübsch die Balkan Beat Box mit ihrem Track Hermetico ausgeschlachtet. Die sind ja seit gut fünf Jahren hochgefeiert und jeder Mensch mit Geschmack findet sie gut und hat mindestens irgendwo eine CD von ihnen stehen. Nun also darf das USamerikanisch-israelische Projekt auch richtig die Massen beglücken.
Die Mischung ist clever. Sie ist global zeitgemäß – das Video versucht ja dann auch ansatzweise ein bisschen auf international zu machen. Und hier könnte man schon in einen Jubelgesang ausbrechen: schöne, bunte Welt, Sprache und Kultur sind längst keine Hürden mehr, wir verstehen uns schon… Könnte man. Wäre da nicht gerade dieses genau konträr verlaufene, politische Ereignis des letzten Wochenendes gewesen. Da hat die deutsche Republik in Mehrheit gezeigt, dass da nicht viel mit bunt, international und modern ist. Da war es flächendeckend nur noch schwarz. Und ich krieg diese beiden Ereignisse gar nicht recht zusammen. Was ist das für eine Gesellschaft, die auf der einen Seite global, multikulturell abfeiert, ohne Angst vor Berührungen und Mischungen und auf der anderen Seite werden am liebsten alle Schotten dicht gemacht, Austausch bitte nur wenn er sich wirtschaftlich rechnet und das mit den anderen Kulturen und Traditionen, die sollten sich mal auch lieber an deutschen Gepflogenheiten orientieren …
Ja ich weiss schon, die Kids, die sich Musik kaufen, sind nicht interessiert an Politik und dürfen obendrein meist noch gar nicht wählen. Außerdem haben sich Popwelt und Politik ja bereits dermaßen voneinander entfernt, dass beides scheinbar nichts mehr miteinander zu tun hat. Ich glaub’ zwar, dass das kompletter Unsinn ist, denn gerade die Abwesenheit von jeglichem Gesellschaftsbezug im Mainstream ist hochpolitisch. Sie überlässt in ihrer Alles-egal-Haltung allen möglichen Freaks die Möglichkeit unser Leben (und unser Feiern) zu bestimmen, zu lenken oder wahlweise auch einzuschränken oder zu verbieten.
Vor einiger Zeit sagte mir eine 16jährige, ihr sei das doch völlig egal ob sie fremdbestimmt wäre oder nicht. Sie fände das sogar gut, wenn sie nicht ständig selber entscheiden und nachdenken müsse. Et voilá – willkommen in der schönen, neuen Welt. Jason Derulo spielt uns schon mal den Soundtrack dazu. Für völlig kritiklosen Konsum ist er mit seinen wirklich eindrucksvollen Choreographien und der übersteigerten Körperkult-Inszenierung ja bestens geeignet.
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