Worauf junge Menschen so alles kommen? Zum Beispiel ein Sample von Stevie Wonder zu verwenden.
OK - am Ende bleibt davon nicht viel übrig. Ist dann auch egal, ob es der Meister höchstselbst aufgenommen hat oder nicht. Aber wenn dieser am Ende sogar selbst die Verwendung noch genehmigt, na dann ist doch jeder Jungproduzent sofort geadelt und es kann gar nichts mehr schief gehen.
Mehr als Marketing ist das alles aber nicht. Oder kümmert sich jetzt ernsthaft jemand darum welches Verhältnis das Original My Cherie Amour zu Wish You Were Mine hat? Sogar der Titel ist ein komplett anderer. Die Bezüge - wenn es sie denn überhaupt gibt - können offensichtlicher nicht verweigert werden.
Also: Graben wir mal nicht weiter in der Geschichte. Das würde sehr wahrscheinlich das vorliegende Ergebnis völlig überstrapazieren und tot interpretieren. So schlimm ist der Track dann wirklich nicht.
Trotzdem bleibt natürlich die Frage: Wie kommt so ein Mensch wie Philip George, Jahrgang 1993, an Material aus den späten 70ern?
OK - er wühlt gern in den Plattenkisten seiner Eltern. Vielleicht ist er sogar ein echter Vinyl-Nerd. So wie Andreas Dorau in den 90ern mal ganz unkeusch alte DDR-Hits von Veronika Fischer und Frank Schöbel ausgegraben und benutzt hat. Das Ergebnis war erfrischend, funky und auf alle Fälle ganz neu.
So weit würde ich mich bei Philip George jetzt nicht aus dem Fenster lehnen. Wish You Were Mine wiederholt da eher, was beim jungen DJ vielleicht als Kindheitserinnerung noch vorhanden ist: 90er Jahre Housemusic. Das Gesangsschnipselchen hätte es an dieser Stelle vermutlich gar nicht wirklich gebraucht. Es dient höchstens als - dann doch recht schnell nervender - Wiedererkennungseffekt.
Der stellt sich unweigerlich ein und bedient im neuen musikalischen House-Umfeld eine Sehnsucht, die einige Jung-Erwachsene derzeit ganz gern zurückträumen lassen an die Zeit als noch so viel möglich schien und das Leben sowieso noch ganz einfach war. Ist das der Grund für die massenhafte Wiederentdeckung des Sounds, der mindestens durch KIESZA gerade perfekt zelebriert wird und sogar solche Rap-Biester wie Kid Ink oder DJ Snake zum Neu-Verwursten animiert?
Erstaunlich ist, welche Kraft dieser Sound, diese Idee immer noch hat. 20 Jahre danach. Auch wenn House mittlerweile alles andere als ein Nischenphänomen ist, kann es offenbar immer noch als Bezugs- oder Fluchtpunkt für die Kleinstadt-Tristesse dienen. Kopfhörer auf und die Welt ist plötzlich voller ekstatischer und fröhlicher Menschen. Statt Vorgarten-Idylle und Supermarkt ist es Freude, Party, Tanz, welche das Leben bestimmen.
Die Bezüge hier auszugraben verspricht ein bisschen mehr Aufschluss über das heutige Sein. Wieder einmal ist es ein Straßenvideo: Ungeschminkter Alltag mit ordentlich abgeranzten Ecken und Hässlichkeiten in dem bewusst eine Kunstwelt aus Choreographie und Inszenierung platziert wird. Inszenierter Realismus – oder vielleicht besser "ergänzte Realität" wie sie international KIESZA oder in Deutschland vor allem Kim Frank zelebrieren. Ganz nah dran am Leben, und gleichzeitig der Ort für Wünsche und Träume. Es ist nicht unbedingt die komplett neue Welt mit völlig anderen Grundbedingungen und Umgebungsvariablen. Es reicht schon, mit etwas mehr Freude durch das Leben zu gehen und alles würde erträglicher und vermutlich um Einiges weniger spießig. Ein Ziel, das irgendwie auch erreichbar scheint und zumindest lebenswirklich aussieht.
Daneben sieht die Vision von CHARLI XCX sehr viel unreflektierter, kindergartenmäßiger und irgendwie auch spießiger aus. Veränderung fängt manchmal vielleicht doch eher im Kopf an.
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