Freitag, 3. Juli 2020
The Rolling Stones:
Living In A Ghost Town
Also irgendwas ist schon schräg an dieser Nummer 1. Oder gleich mal die Antwort vorweg genommen: Verrückt, wie sehr sich die Rolle der Charts verändert hat. Was sie heute widerspiegeln, das hat so ziemlich gar nichts mit dem zu tun, was in den 60ern oder davor galt.
Wir haben uns natürlich schon dran gewöhnt, dass da wöchentlich ein neuer Track ganz an der Spitze gelistet wird, der sicherlich am allermeisten gestreamt und per Download gespeichert wurde - in den meisten Fällen spielt dieser Track schon wenige Tage später gar keine Rolle mehr. Das kollektive Gedächtnis wird überschrieben mit neuen Produktionen.
Vor gar nicht allzu langer Zeit war das noch anders. Auch da gab es Hypes um Singles, die ganz schnell aufflammten und dann ebenso blitzartig wieder verschwanden. Mit wachsender Länge der Charts und erhöhter Frequenz der Erscheinungsweisen kamen solche Ereignisse häufiger vor. Daneben gab es dann oft noch eine ganze Menge Gassenhauer, die sich längere Zeit etablieren konnten. Gern auch längere Zeit die Top-Position belegten und dem entsprachen, was da so allerorten aus den Autoradios und Koffertransistoren erschallte.
Mit zunehmender Digitalisierung und Privatisierung von Playlists veränderte sich das Bild der Charts. Logisch - wenn ich mir so eine Vinyl-Single für richtig viel Geld kaufe, dann spiele ich die auch bis zum Erbrechen hoch und runter. Hat auch was damit zu tun, wie viele von diesen scheiben ich mir wirklich leisten kann und will. Im digitalen Zeitalter spielen die Mikroausgaben viel weniger eine Rolle. Und auf die Festplatte ziehe ich mir schon lange nichts mehr. Ich kann also ganz beliebig surfen und mich freuen auf die Hypes der Sozialen Medien - mal kurz mitmachen und dann auch schön gelangweilt woanders weitermachen.
Immerhin: Geblieben sind garantierte Lieferanten. Der neue Track vom Capi muss cool sein. Hab zwar keine Ahnung wie der heißt oder was da jetzt der Unterschied zu den drei vorhergegangenen Produktionen ist - der Sound stimmt, der Style ist der richtige, das ist mein Lebensgefühl. Und auch wenn die Oma nebenan wohl eher nicht Apache 207 hört, den Namen von dem Typen hat sie in irgendeiner debilen Talkshow oder Gossipzeitung schon gehört und gelesen.
Bei den Rolling Stones bin ich mir da jetzt plötzlich gar nicht mehr sicher, ob das alles noch so funktioniert. Also klar: Die Zunge kennt vermutlich jeder. Von uralt bis babyjung. Und der Name der Rock'n'roll-Uropas dürfte auch allerorten geläufig sein. Bei dem Wort Kastanie hat ja schließlich auch jede*r so ungefähr eine Vorstellung, dass es wohl ein Baum ist. Aber ist es wirklich so, dass Menschen im Jahr 2020 ernsthaft dieses Living In A Ghost Town hören. Dass dieser Sound ihr Lebensgefühl widerspiegelt?
Anders gefragt:
Hat Living In A Ghost Town einen vergleichbaren Status wie The Last Time, (I Can't Get No) Satisfaction, Get Off Of My Clothes, 19th Nervous Breakdown, Let's Spend The Night Together und Jumpin' Jack Flash? Das die Nummer 1en der Band so far.
Ich habe Zweifel.
Vielleicht will ich diesen gefühlt 100jährigen Monstern einfach auch nicht zugestehen, dass sie am Puls der Zeit leben? Offenbar sind es ja zumindest in Deutschland eine echte Menge an Menschen, die sich die CD/Vinyl-Version gekauft haben, um sie sich ins Regal zu stellen. In anderen Ländern, vor allem in den früher mal sehr stark trendangebenden USA und Großbritannien spielt der Song eher so gar keine Rolle. Ist es das, was mich so verwundert?
Hat unser Chartsystem einfach ein paar Macken? Wiedergegeben wird das, was den meisten Umsatz macht. So eine richtig teure Edelaufmachung von Hit XY ist dann einmal verkauft plötzlich so viel wert wie 10 Streamings. - Kann man ja auch häufiger abspielen. Passiert aber nicht unbedingt. Oder doch?
Hier komm ich nicht weiter. Also schau ich mir das Video an.
Naja, da bin ich dann doch schon wieder viel beruhigter. Der Song hat seine Qualitäten. Es ist mir zwar immer noch ein wenig suspekt, dass es eher wenig Anhaltspunkte gibt für eine Produktion, die die Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts widerspiegeln. Die Stimmung trifft aber schon ganz gut so ein vages Gefühl von Verunsicherung, Angst und vielleicht auch Vorsicht. Das schleppende Tempo ist nicht einfach nur cooles Rumgehänge oder Lazyness - das hat auch was von Abwarten und auf der Lauer sein. Es ist keine pure Verzweiflung, die mich da anschreit. Eher so: Ist nicht unbedingt cool was grad abgeht, trotzdem dealen wir damit.
Das hat dann schon was. Zumal in Verbindung mit dem Geisterstraßenvideoclip. Das ist trotz Corona und Ausgangssperre lebenszugewandt. Das nimmt einen Zustand auf, warnt davor, gibt jedoch nicht auf. Mal zum Vergleich den Toosie Slide wieder aus der Kiste geholt und reingezogen. Klar wird sofort: Living In A Ghost Town ist dreißig mal näher an dem, was eine Mehrheit von Menschen grad so erleben, was sie bewegt. Da geht es um Grundbedürfnisse.
Allerdings auch: Das ist halt Musik aus einem anderen Jahrhundert. Die heutigen Kids werden morgen wieder die Deutungsmacht haben und mit Sicherheit andere Akzente setzen.
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