Freitag, 9. März 2012

UNHEILIG: So wie du warst

Er ist derzeit wahrscheinlich der erfolgreichste deutsche Musiker. In den vergangenen zwei Jahren war nur die Berliner Ethno-Dance-Formation culcha candela häufiger in den offiziellen Single-Charts vertreten.Die neue Single So wie du warst ist bereits der vierte Top 10 Hit innerhalb von zwei Jahren, nur Lena Meyer-Landrut kann (mit ganz viel Eurovisons-Unterstützung) etwas Ähnliches vorweisen. Das Album Große Freiheit stand 23 Wochen an erster Stelle der deutschen Album-Charts und überrundete damit Herbert Grönemeyers Werk Öaus dem Jahr 1988. UNHEILIG scheint nichts stoppen zu können. Und mit Ankündigung des neuen Albums Lichter der Stadt, welches am 16. März erscheinen soll, scheint so etwas wie ein kollektives Koma einherzugehen. Radiostationen haben UNHEILIG sofort in Endlosschlaufe genommen, Autoradiohörer drehen lauter, wenn So wie du warst ertönt. Warum eigentlich?

Sind deutsche Musikkäufer (und damit vor allem junge Menschen) ernsthaft so verunsichert, dass sie sich in romantische Sehnsüchte flüchten? Jemand, der immer da ist, der auf einen aufpasst, der die Familie beschützt – das ist das Versprechen, welches der Graf mit seinem Lied gibt. Natürlich sind es ganz gerne Andeutungen von Tod und Abschied, die in dem Lied auftauchen. Das Versprechen, du wirst nicht vergessen sein, du wirst Teil unseres Lebens bleiben, das klingt natürlich gut. Und gefährlich. Ich kenne genügend Menschen, die es bevorzugen, nicht permanent beschützt zu werden. Selbst Kinder müssen Erfahrungen machen, die ihnen kein Elternteil abnehmen kann, sie brauchen Situationen und Räume, in denen sie lernen können, was es bedeutet, verantwortlich fürs eigene Tun zu sein.

In UNHEILIGs Welt gibt es keine Verantwortung des Einzelnen. Es ist immer eine Familie da, ein Freund, ein Beschützer – wahrscheinlich auch ganz gern ein Führer. Nicht umsonst klingen die Refrain-Chöre enorm nach der starken, geleiteten Masse eines Matrosenchors. Und das alles wünschen sich also Menschen in Deutschland 2012? Jemand, der da ist und sagt wo’s lang geht. Egal ob privat in der Familie, im Job oder auch in der Politik. Bloß nicht zu viel selber entscheiden müssen. Bloß kein eigenes Leben führen. Dann wär man ja womöglich auch noch für eigene Fehler selbst verantwortlich.

Visuell setzt So wie du warst da an, wo auch Geboren um zu leben schon angesiedelt war. Es ist die Erinnerung, die für die schönen Momente steht. Das Jetzt ist irgendwie unwirtlich, traurig, einsam. Am Ende findet der alte Mann seine gesuchte Kindheitserinnerung, und dann gibt es doch noch einen schönen Moment. Allerdings besteht auch der vor allem aus Erinnerung. Warum ist es eigentlich nicht möglich, auch heute mal Glück zu erleben? Wo sind die jungen Menschen von heute, die auch tolle Erlebnisse haben und Freude empfinden? Und wieso müssen sich zwei Menschen denn sofort verstehen, wenn sie nach zig Jahren sich wieder treffen? Ist dazwischen nichts passiert? Haben sich diese Menschen nicht auch verändert durch ihre Leben? – Das blendet das Video aus. Und ich höre schon die Begründung: es sind schließlich nur 4 Minuten, in denen kann man keine komplexen Geschichten erzählen. Außerdem ist es wie im Kino, Menschen wollen nicht permanent die Realität sehen … Leider glaube ich diesen Antworten nicht, denn ich treffe vor allem Menschen, die mir genau das Gegenteil erzählen. Märchen gern, aber nicht immer so langweilig schwarz-weiß. Und diese Verortung der Persönlichkeit in einer überhaupt nicht mehr gültigen Kindheit und Jugend ist dermaßen überflüssig. Bestimmend für das Leben sind meist ganz andere Zeitpunkte. In den meisten Fällen sind das Ereignisse, die vielleicht 10 oder 20 Jahre zurückliegen, aber sicher nicht 40...50...60.



Wenn ich jetzt nach dem Video noch anfange die Inszenierung des Grafen auseinanderzunehmen, dann wird es vermutlich ganz schlimm. Der zeitlos Neutrale, der Unerreichbare, der mit pathetischen Gesten, leidend-verständigem Gesichtsausdruck und stets unbestimmt nach halboben gerichtetem Blick meine Hand halten und mich (beg)leiten möchte … ehm, diese Art von Pfarrer, Erzieher oder Bürgermeister hab ich schon eh und jeh als unangenehm empfunden. Da sind mir die Fishers vom Bestattungsunternehmen aus Six Feet Under sehr viel näher – die haben zwar alle eine Macke und eine ganze Menge Probleme, aber wenigstens wissen sie so viel vom Leben, dass sie Menschen auf gleicher Höhe die Hand reichen können. Und da gibt es dann auch mal was zu lachen statt der ewigen Depressionstrauer.





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