Schon wieder sind es Wolken, die einem Hit zum Titel verhelfen. Da scheint eine gehörige Sehnsucht nach diesen Dingern zu bestehen. Denn um bedrohliche Gewitterwolken oder andere gefährliche Dinger geht es weder bei Wolke 7 noch bei Lila Wolken. Vielleicht klingt es ein bisschen verstrahlt – und ist nach einer durchfeierten Nacht natürlich auch genauso gemeint – die Wolken morgens haben nunmal die allerwunderlichsten Farben. Und diese Wolken stehen für ein irgendwie nicht genau zu definierendes, wohltuendes Gefühl. Es ist so etwas wie Freiheit und Glück, die sich breit machen am frühesten Morgen. Es ist auch dieses unendliche Gefühl, leergefegter Straßen und Städte. Keine Grenzen, keine sozialen Zwänge.
Davon erzählt also Lila Wolken des Trios MARTERIA • YASHA • MISS PLATNUM. Und damit beschreiben sie ziemlich genau das Gefühl, die Sehnsucht einer Jugend, die aufwächst im Kommunikations- und Krisenstress des noch jungen Jahrhunderts. In den 90ern, da wurde es zur Normalität die Nächte durchzufeiern und frühestens Sonntagmittag ans Nachhausegehen zu denken. Eigentlich gings sogar dann noch weiter. 2012 muss man dieses Recht auf unbeschränktes Feiern schon wieder ordentlich einfordern. Ordnungshüter, unzählige Regelungen, ein immer härter werdendes Jobsystem und die allgemein wachsende Spießigkeit lassen es gar nicht mehr so selbstverständlich sein, sich seine Freizeit zu gestalten wie es einem gefällt. Lila Wolken ist ein bisschen die Hymne zu diesem Aufbegehren.
Das ist natürlich kein völlig neues Verlangen, dass sich da breit macht. Bei mir stellte sich auch bei der allerersten Begegnung mit den Lila Wolken sofort ein Deja vu-Effekt ein: Kennste das nich? Und dann hat es nochmal einen Tag und eine Nacht gedauert bis mir auffiel: Lila Wolken ist im Grunde die konsequente Fortsetzung von Augen zu, welches vor zwei Jahren allerorten präsent war.
Im direkten Vergleich hab ich sogar das Gefühl, dass Marteria & Co. mindestens mit einem Ohr ziemlich direkt auf diesen Titel gehorcht haben. Auch dort spielen zumindest rosarote Wolken eine Rolle. Und die Stimmung ist ohnehin genau dieselbe. Nur, dass Kobito&Sookee (aka Deine Elstern) sich nach der Nacht ganz frei und fertig einfach nur nach ihrem Bett sehnen dürfen. So einfach haben's die neuen Helden 2012 nicht. Aber die sind ja auch nicht mehr ganz so Underground und Independent – und wahrscheinlich auch viel weniger cool als Kobito&Sookee.
Das wird deutlich, wenn man sich mal das Video zu Lila Wolken betrachtet. Zuerstmal frappiert dieser Zufall: Lila Wolken löst Reckoning Song / One Day als Party Hymne ab. Und wie als wäre Popmusik eine Soap schließt auch die Bildwelt an die Ausgelassenheit und die Wildheit der ungehemmten Feierei des Vorgängers an. Allerdings belässt es Lila Wolken nicht bei der Einfachheit der direkt widergegebenen Wirklichkeit, das Video fährt schon eine ordentliche Portion Inszenierung und Protz auf. Da gibt es Kameraflüge, Marteria, Yasha und Miss Platnum klettern auf ein Riesengasometer, eine Gestalt mir Gesichtsmaske schleicht durchs Video und am Ende gibt es auch ein auf dem Wasser treibendes Bett. Das ist schon enorm pathetisch. Reicht das wirkliche Leben eigentlich nicht?
Richtig böse und leider auch bieder wird es aber durch die Einsprengsel von möglicherweise realen Partyszenen. Da wird mit nackter Haut und Freizügigkeit geprahlt. Guckt mal, was wir uns trauen! Keine Angst, keine Scheu, keine Grenzen! Großartig! – Aber im Video wird’s dann doch gepixelt oder mit schwarzen Balken versehen. Brüste oder Pimmel auf dem Bildschirm, das geht einfach nicht! So viel Freiheit ist dann doch eindeutig zu heftig.
Frag ich mich jetzt: in welcher Welt leben wir eigentlich, dass wir die komplette Nacktheit so sehr verstecken müssen? Selbst wenn sie nur Sekundenbruchteile auftaucht und also sowieso nicht wirklich wahrzunehmen ist? Da war die deutsche Öffentlichkeit schon mal wesentlich weiter. In den 80ern gab es in solchen Biedersoaps wie der Lindenstraße kaum eine Folge, in der nicht ein nackter Mann oder eine nackte Frau durch’s Bild lief. Ohne Balken oder Wegblenden.
Was in der Lindenstraße nicht mehr geht, geht im Musikfernsehen offensichtlich auch nicht mehr. Und hier meine ich den Vergleich sehr ernst. Lila Wolken ist insgesamt und mit seinem Erfolg eben doch zuallererst mal biederer Mainstream. Da hilft’s auch nicht viel, dass sich sowohl Marteria wie auch Miss Platnum in den letzten vier Jahren erst ganz langsam nach oben arbeiten mussten. Irgendwo war es nötig Kompromisse zu schließen, sich anzupassen, erwachsen und gesetzt zu werden. Warten wir auf die nächste Generation, die wirklich auf alles scheißt und nur ihr Ding macht.
Am Ende dann noch ein kleiner Ausblick: die EP enthält noch vier weitere Tracks, unter anderem Feuer welches vom musikkaufenden Publikum zum zweiten Lieblingstrack auserkoren wurde. Die Anleihen an Prodigys Firestarter sind deutlich, die visuelle Inszenierung noch grober: MARTERIA • YASHA • MISS PLATNUM sind angetreten, die nächsten Pop-Superstars zu sein.
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