Freitag, 30. Dezember 2016

Mariah Carey: All I Want For Christmas Is You



Die letzte Woche des Jahres – nicht viel Neues in den Musiklisten und -verkaufsangeboten. Aber in den Midweek-Charts eine kleine Überraschung: Auf der Nr.1 steht All I Want For Christmas Is You von Mariah Carey.

OK - der abgedeckte Zeitraum ist genau der 23.–25. Dezember, also die heilige Weihnachtszeit in Höchstform und Komplettheit. Und auch, wenn doch alle immer nur klagen: zu viel Kommerz, zu viel Familie, zu viel, zu viel, zu viel ... Am Ende sind doch so ziemlich alle immer fleißig mit dabei, wenn es gilt, das Fest in seinen Traditionen zu feiern. Nicht nach Hause zu den Eltern fahren – ein Sakrileg! Am 24. oder 25. arbeiten – geht gar nicht. Selbst meine coolsten und abgebrühtesten Freunde können sich von diesen tief ins Unterbewusste eingebrannten Regeln nicht frei machen. Es sei denn, sie haben wirklich einen anderen Glauben. Aber das ist in Deutschland nach wie vor die Minderheit.

Insofern: Kitschige Weihnachtslieder gehören zum Standard-Repertoire der Festtage. All I Want For Christmas Is You auf der 1 zu sehen, ist trotzdem ein bisschen überraschend. Denn egal wie heilig und festlich die Vorjahre waren: An der Spitze der Charts stand doch stets ein irgendwie gelaunter Pop-Song. Höchstens mal eine Charity-Single. Das weihnachtliche Glöckchenklingeln, das landete vielleicht auf Platz 20 oder vielleicht auch mal Platz 13. Das war's dann aber auch schon.

2008, da gab es eine kleine Sensation als nach 23 Jahren der Wham!-Klassiker Last Christmas plötzlich auf Platz 4 sprang. Das hatte auch mit den plötzlich zu den Charts gezählten Download-Verkäufen zu tun. Und einer ordentlich angekurbelten Medienmaschine. Die CD-Single gab es bis mindestens 2010 jedes Jahr neu in den Regalen zu erwerben.

Mariah Carey hat seit gut drei Jahren Wham! von ihrem Thron des beliebtesten Weihnachts-Pop-Klassikers verdrängt. Nicht weniger mit Glöckchen verziert, aber doch um einiges unkitschiger. Die Midweek-Nummer 1 ist die Krönung dieses Aufstiegs. In den regulären Charts, herausgegeben am Freitag, steht All I Want For Christmas Is You dann tatsächlich auch immer noch auf Position 5. Gleich hinter den Pentatonix mit ihrer Version von Hallelujah. Bestplatzierung. Nach 21 Jahren!

Warum ist dieses Liedchen nun ausgerechnet in den 10ern so beliebt? Emma Green hat im vergangenen Jahr einen sehr hübschen Artikel im Atlantic veröffentlicht und die philosophische Dimension des Songs herausgearbeitet. Auch mit einem kleinen Augenzwinkern. Die Absage an den Konsum- und Geschenketerror mit Hinwendung zu einem geliebten "You" - einem singulären Objekt der Begierde und Liebe. Wollen wir nicht alle zu Weihnachten (oder ähnlichen Festen, in denen sich die Menschen in diversen Konstellationen versammeln und Gemeinschaft zelebrieren) irgendwie andere auch einbeziehen, mit Liebe und Fürsorge überschütten?

Ich fürchte, die eine oder andere sagt hier dann doch "Nein". Meint es aber nicht so. Denn selbst die härtesten Jungs und Mädels umgeben sich doch derzeit mit Haustieren, um wenigstens einen treuen Gefährten zu haben, der sich nicht vor zu viel Zuwendung wehrt.

Nun ging es bei Wham! ja auch schon darum, wem man sein Herz schenkt. Ganz 1980er-mässig natürlich vor allem um eine möglichst treue Person – romantisch verklärt und immer auf der Hut vor Verletzungen. Mariah Carey ist da zehn Jahre später schon etwas anders drauf. Ein Blick in ihre Biographie verrät auch warum. Mit Verletzungen und Enttäuschungen kann sie umgehen – Hauptsache es ist überhaupt jemand da. Die Angst davor an diesem gesellschaftlichen Komatag wirklich draußen zu sein ... und im Fernsehen kommt ja auch nur Müll. Zumindest in den 90ern eine echte Gefahr – da gab's noch kein Netflix und Co.

15 Jahre später, im Jahr 2008, gab es dann eine Neuaufnahme des Songs. Mit Duettpartner Justin Bieber. Da geht es vor allem im Video deutlich expliziter zu. Zwischen erotisch-lasziver Körperlichkeit und Mami-Sohn-Beziehung kann man sich aussuchen, welche Art Zuneigung und Nähe gesucht wird.



Es hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten in unserem Verlangen und auch in den Möglichkeiten unserer Beziehungen einiges getan. Ob das nun gut oder schlecht ist soll jede/r selbst entscheiden. Erwachsener als das peinliche Hündchenvideo von 1994 ist die 2008er Version allemal.



Bei aller Freude am Text zerlegen sollten wir hier aber nicht vergessen: Der nostalgische Blick auf die Vergangenheit gehört in den 2010ern zur gesellschaftlichen Norm. Und die 1950er/60er sind da besonders beliebt. Ob es nun vor fünf Jahren Mad Men war oder die kurz darauf einsetzende Hipster-Mode oder die Teenie-Version in Form von Meghan Trainor – der Sound der schönen, alten Zeit klingt uns in den Ohren und bringt ein warmes, heimeliges Gefühl mit sich. Würde man bei All I Want For Christmas Is You die Synthesizer durch analoge Instrumente ersetzen, könnte der Song gut und gerne auch aus dieser glorreichen Zeit stammen. Wer ein bisschen sucht, findet auch das extra gedrehte Schwarzweiß-Video, in dem mariah Carey ganz fleißig die Ronettes zitiert.



Allein mit diesen drei Varianten ist klar, warum Mariah Carey so unglaublich populär ist. Jede/r kann sich seine/ihre Version aussuchen. Das hat Wham! nicht geschafft. Da bleibt mir maximal die Interpretation durch andere Künstler. Und die gibt es ja tatsächlich reichlich. Bei All I Want vor Christmas Is You hat die Coverlust erst so richtig in den vergangenen fünf Jahren eingesetzt. Ist also so gut wie sicher, dass wir auch im nächsten Jahr den Song wieder zelebrieren werden.

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